
Eva Sperber ist 1959 in Mainz geboren und in Ludwigshafen aufgewachsen. In der Jugend begann sie, Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. In Mainz und Freiburg studierte sie Medizin und war als ärztliche Psychotherapeutin in Ludwigshafen niedergelassen. Ihr Interesse gilt eigenen und fremden Kulturen. Begegnungen und Reiseimpressionen stellt sie in Vignetten, Kurzgeschichten und Gedichten dar.
Leseprobe
Lebenselixier
Schlurfenden Schrittes geht der alte Mann den Gang entlang. Sein schneeweißes Haar, das ihm immer noch in üppigen Wellen bis zur Schulter reicht, hat er mit einem Gummi sorgsam gebändigt. Auf seinen Rollator gestützt erkämpft er sich Schritt für Schritt. Die elegante schwarze Hose, das weiße Hemd, besonders aber seine intelligenten blauen Augen verleihen ihm eine frische Lebendigkeit, die in merkwürdigem Kontrast zu der Starre seines Körpers steht. Alle paar Schritte bleibt er stehen, richtet den immer noch imposanten Körper zu seiner vollen Größe auf, blickt in eine dem Betrachter unzugängliche Ferne.
Ja, früher hätte er diesen Gang in wenigen Schritten hinter sich gelassen, wäre die Treppe hinunter gesprungen, hätte sein Fahrrad mit kräftigen Tritten in die Berge gelenkt. Die wärmende Frühlingssonne auf der Haut, den frischen Wind um die Nase, hätte er jeden Meter genossen, den sein Fahrrad unter seinen Füßen an Höhe gewonnen hätte. Oben angekommen, hätte er den Blick in die weite Ebene schweifen lassen, auf der Berghütte schließlich einen Stuhl in die Sonne gerückt und sich einen Kaffee gegönnt. Mit Schlagsahne. Bergab hätte er den Rausch des Fahrtwindes gesucht, um anschließend durch die Dörfer nach Hause zu seiner Familie zu radeln. Müde und glücklich wäre er abends in sein Bett gesunken.
Und noch früher wäre er gar nicht hier gewesen, er hätte die freie Zeit zum Tanz genutzt. Fast spürt er wieder, wie die Musik seinen Körper in Bewegung setzt, wie die Last des Alltags sich unter ihren Klängen löst, viele Stunden lang ohne Pause. Tanzpartnerinnen fand er immer, gerne vertrauten sie sich seiner kräftigen, lustvollen Beweglichkeit an.
Auch schon als Kind war er ständig unterwegs. „Hops-Dops“ nannte ihn seine Mutter manchmal liebevoll. Hüpfend, rennend, kletternd, singend erkundete er seine Umgebung. Kein Ball, kein Baum war sicher vor seiner Entdeckerfreude. Freunde rannten mit ihm um die Wette, gegenseitig forderten sie sich heraus, gemeinsam eroberten sie die Welt.
Fast unmerklich setzt der Rollator sich wieder in Bewegung, fängt die Unsicherheiten der verformten Gelenke, der schmerzenden Wirbelsäule auf. Aufrechten Gangs, die blauen Augen in der Ferne verankert, erreicht der alte Mann das Café. Viel weiter ist er heute gegangen, als seine Pflegerin es ihm zugetraut hätte. Langsam und umständlich rückt er einen Stuhl in die Frühlingssonne. Ein milder Wind füllt den Platz mit Blütenduft.
Der alte Mann bestellt einen Kaffee. Mit Schlagsahne. Er strahlt.
Veröffentlichungen
- Im Oktober 2024 erschien ihre Autobiografie „Mein Leben als Sonderausgabe“.
https://www.edition-wortschatz.de/shop/mein-leben-als-sonderausgabe/
Kontakt
Dr. Eva Sperber
eva.sperber@gmx.de
