Der Lite­ra­ri­sche Ver­ein der Pfalz war am Mitt­woch, den 17. April zu Gast bei Mar­kus Knecht, Inha­ber des Buch­la­dens Bücher­knecht und stell­te sei­ne 2023 erschie­ne­ne Jah­res­ga­be „Kind­heits­träu­me” vor. Die Lesung fand im Rah­men der Büche­rei­ta­ge statt. Der Gäs­te­raum war gut gefüllt.

Geschich­ten sind ein bedeu­ten­der Teil der Kul­tur, man den­ke da an Grimms Mär­chen. Sie unter­hal­ten nicht nur, son­dern tra­gen zur Reflek­ti­on und Ori­en­tie­rung bei, wecken die Gefüh­le der Lesen­den und Hörer.

Die ers­te Vor­sit­zen­de Bir­git Heid schrieb im Vor­wort der Antho­lo­gie: „Die­se Erzäh­lun­gen ver­set­zen die Lesen­den in Wirk­lich­kei­ten, deren Gerü­che und Geräu­sche, deren Stim­men und die Atmo­sphä­re ent­we­der ver­gan­gen sind oder sich stark gewan­delt haben.„
Heid wies auf die erfolg­rei­che älte­re Jah­res­ga­be „Kind­hei­ten – Pfäl­zi­sche Schrift­stel­ler erin­nern sich” von 1987 hin, die noch von Erin­ne­run­gen an die Kriegs­zeit geprägt war – plas­tisch, inter­es­sant und auf­schluss­reich – wie sie in ihrer Anmo­de­ra­ti­on sag­te. Doch was emp­fin­det die fol­gen­de Gene­ra­ti­on? Eine Fort­set­zung erschien nahe­lie­gend und wur­de mit viel Unter­stüt­zung ver­wirk­licht. Kin­der hat­ten es in den Nach­kriegs­jah­ren mit schwar­zer Päd­ago­gik und teils mas­si­ver Indok­tri­na­ti­on zu tun, waren aber auch geschickt dar­in, sich Frei­räu­me mit viel Phan­ta­sie zu kre­ieren. Bir­git Heid emp­fahl die vor­ge­tra­ge­nen Geschich­ten als Blu­men­strauß der Mög­lich­kei­ten, und ja, es gelang offen­bar, dem Qua­li­täts­an­spruch der Leser und Hörer gerecht zu wer­den.

Zwi­schen den Lesun­gen waren sinn­li­che, reiz­vol­le Klang- und Geräusch­spie­le zu hören, wie durch Klang­scha­len, Ras­seln, Glo­cken und Horn. Ver­nahm man da nicht auch das Rascheln einer Rezen­si­on im Zei­tungs­pa­pier?
Wolf­gang Diehl, Pfalz­preis­trä­ger 2023, konn­te sich da nicht brem­sen, hör­te selbst wohl auch hin­ein in sei­ne Pro­sa „Vom Laus­bub-Sau­lus zum Dich­ter-Pau­lus”. In sei­ner Erin­ne­rung klang die Stim­me sei­nes Land­schul­meis­ters vol­ler Hall und Schall und „erreicht(e) in (s)einem Erin­ne­rungs­echo inzwi­schen eine Grö­ße, einen Umfang, einen Klang­raum, den sie garan­tiert nicht hat­te. Es war, als woll­ten sich die Buch­sta­ben in Lau­te auf­blä­hen und explo­die­ren zu einem wah­ren Laut­spek­ta­kel, das alles barg, was Leben beinhal­ten konn­te.”  Diehl, Jahr­gang 1940, arbei­te­te nach sei­nem Stu­di­um 10 Jah­re als Jour­na­list und wur­de dann Leh­rer an der Maria-Ward-Schu­le. Der Beam­ten­sta­tus ver­schaff­te ihm Sicher­heit und gewis­se Frei­hei­ten beim lite­ra­ri­schen Wir­ken. In sei­ner Geschich­te stellt er gleich zu Anfang die Fra­ge: „Wie wird man Schrift­stel­ler?” Der unter­schwel­li­ge Cal­vi­nis­mus mit dem Ableh­nen von unnö­ti­ger Bil­dung war ihm lan­ge im Weg, bis er in der 5. Klas­se nach einem vor­ge­tra­ge­nen Gedicht eine ers­te Erleuch­tung hat­te. Diehl resü­mier­te: Im Alter fän­de er offen­bar wie­der zur Kind­heit zurück.

Bir­git Heid ver­trat die erkrank­te Lilo Beil. In „Däm­mer­stünd­chen“, ange­sie­delt im Jahr 1958, ist das Kind Mar­ga­re­te die Prot­ago­nis­tin. Sie liegt krank im Bett, was ins­be­son­de­re wegen des lie­be­vol­len Umsor­gens und der Schul­frei­heit, sie hasst Mathe­ma­tik, in der zwei­ten Hälf­te ihrer Läge­rig­keit wohl­tu­en­den Cha­rak­ter annimmt. Eines Tages belauscht sie ein Gespräch ihrer Eltern im Nach­bar­zim­mer. Sie spre­chen über die Gräu­el­ta­ten der Nazis. Aber sie selbst hät­ten doch so vie­les nicht gewusst. Schwei­gen und Ver­drän­gen aus Angst wir­ken belas­tend. Die Mut­ter erzählt mit Schre­cken, dass Müt­tern die Kin­der von der Brust weg­ge­nom­men und die­se vor ihren Augen erschos­sen wur­den. Von da an, beschließt Mar­ga­re­te, war ihre Kind­heit zu Ende.
Die bekann­te Kri­mi-Autorin Lilo Beil gibt an, dass ihre Geschich­ten auto­fik­tio­nal sind, Phan­ta­sie und Rea­li­tät ver­mi­schen sich. Tex­te wie „Däm­mer­stünd­chen“ mögen als Schlüs­sel­er­leb­nis eine Erklä­rung sein, war­um in ihren Roma­nen die Nazi­zeit einen Schwer­punkt bil­det. Bir­git Heid las mit viel Empa­thie, die pas­sen­de Mimik und Ges­tik hol­ten das Publi­kum in die Tie­fen der Geschich­te ab.

Heinz Lud­wig Wüst brach­te aus Gleis­wei­ler sei­ne Pro­sa „Das ers­te Mal” mit. In der Grund­schul­zeit galt er als vor­laut und gera­de­her­aus, aber eine Volks­hoch­schul­pro­fes­so­rin erkann­te sein lyri­sches Talent, was zu sei­nem ers­ten öffent­li­chen Vor­trag führ­te. Das in der Kurz­ge­schich­te erwähn­te Mund­art­ge­dicht „Wärschtl” konn­te er nach Wunsch eines Gas­tes in der Pau­se im Steh­greif auf­sa­gen, was mit viel Applaus belohnt wur­de.

Die wit­zig-iro­ni­sche Geschich­te von Ursu­la Dör­ler aus Stel­zen­berg spielt in der Wirt­schafts­wun­der­zeit. Die Eltern sit­zen fein am mit wei­ßem Tuch gedeck­ten Tisch. Das noch klei­ne Kind balan­ciert unter stän­di­ger Ermah­nung mit einem Glas Johan­nis­bee­ren­saft, was eine wis­sen­schaft­li­che Fas­zi­na­ti­on aus­übt. Der Vater schrei­tet hap­tisch, unge­schickt ein, sei­ne Hand kol­li­diert mit dem Glas – schon ist das Mal­heur pas­siert. Alles voll­ge­spritzt! War jedoch nicht Schuld des Kin­des! Von Dör­ler schön stimm­lich modu­liert.

Lothar Seid­ler, Klein­ver­le­ger und Autor aus Hei­del­berg, über­zeug­te mit sei­ner Kurz­pro­sa „Schreib­be­we­gun­gen”. Er wuchs in Nürn­berg auf und schil­dert mit sei­nem Hang zu absur­den Situa­tio­nen sei­ne Zeit als ABC-Schüt­ze. Doch wen erschie­ßen sie eigent­lich? Früh­be­gabt, er konn­te schon vor der Schu­le lesen, schei­tern regel­mä­ßig Ver­su­che, ihn in ein Sche­ma F zu zwän­gen. Sein schwarz-humo­ri­ger Stil kam beim Publi­kum gut an.

Maria The­re­sia Gauß aus Wörth bil­de­te mit „Die Fahr­zeu­ge” den Schluss der Lesung. Sie wuchs in einem bäu­er­li­chen Umfeld auf. Beson­ders wich­tig war der Trak­tor mit dem Anhän­ger, der Rol­le, mit der alles mög­li­che hin und her trans­por­tiert wur­de. Selbst­ver­ständ­lich auch von Kin­dern gesteu­ert. In einer Zeit, wo im Ort nur weni­ge Autos exis­tier­ten, ström­ten die Men­schen zusam­men, wenn ein Händ­ler mit sei­nem Gefährt die Run­de mach­te. Eine klei­ne Sen­sa­ti­on. So das Schmuck­au­to, Blu­men­au­to, der Schrott­händ­ler und auch das Bet­ten­au­to mit ver­steck­ter Damen-Spit­zen­wä­sche. Ein wei­te­rer Höhe­punkt: Die Kir­mes­wa­gen. Die Autorin schil­dert eine ana­lo­ge Ver­gan­gen­heit, in der Kin­der unbe­schwert auf den Stra­ßen spie­len konn­ten. Von einer nost­al­gi­schen Ver­klä­rung ist die Autorin aber weit ent­fernt.

26 Mit­glie­der des Lite­ra­ri­schen Ver­eins sind mit ihren Tex­ten in der Antho­lo­gie vor­zu­fin­den, die vom Bezirks­ver­band Pfalz geför­dert wur­de.
 
Kind­heits­träu­me – Pfäl­zer Autorin­nen und Autoren erin­nern sich. Well­hö­fer Ver­lag 2023, ISBN 978–3‑95428–300‑2, 198 Sei­ten. 14€

Arti­kel aus dem Wochen­blatt Land­au vom 21.4.24 | Peter Her­zer