Mar­ti­na Ber­scheid und Bar­ba­ra Mik­law auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2024

Bar­ba­ra Mik­law vom Mira­bi­lis-Ver­lag zeig­te sich auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se nach der Lesung sehr zufrie­den mit Mar­ti­na Ber­scheid – Denn sie leuch­te in ihren Tex­ten stil­si­cher und mit viel Empa­thie die ver­schie­dens­ten Cha­rak­te­re in deren sozia­len Umfeld aus. Ber­scheid besitzt ein Fai­ble für eher unschein­ba­re, stil­le Men­schen. Von Edward Hop­per gibt es das berühm­te Bild Night­hawks. Men­schen sit­zen in der Nacht des­il­lu­sio­niert an einer küh­len Bar. Ber­scheid wid­me­te die­sem Titel sogar eine Kurz­ge­schich­te. In ihren Geschich­ten tritt oft eine Zäsur ein. Das sich müh­se­lig dre­hen­de oder auch gut geöl­te Lebens­rad kol­la­biert hin­ter der Fas­sa­de, wen­det sich über­ra­schend in eine neue Rich­tung. Das sorgt unter Ein­be­zug ihrer unge­wöhn­li­chen Erzähl­kunst für einen wirk­mäch­ti­gen sub­ti­len Span­nungs­bo­gen. Die Autorin ver­mit­telt oft­mals Licht­bli­cke, doch ein typi­sches Hap­py End fin­det rea­lis­ti­scher­wei­se nicht statt. Die Leser wis­sen aber wohl zu schät­zen, dass i.d.R. nach üblen Erfah­run­gen eine Besin­nung auf das Wesent­li­che ein­kehrt.

Aber ja doch, ein Haupt­the­ma ist die Lie­be und Bin­dungs­stö­run­gen, das Los­las­sen und das Nicht­los­las­sen im Rah­men der gro­ßen gesell­schaft­li­chen Strö­mun­gen:

Ich weiß nicht, ob ich begrei­fen möch­te, wor­auf sie hin­aus­will. Schon mehr­fach hat sie wäh­rend unse­res Gesprächs die­sen Weg ein­ge­schla­gen, einen dunk­len, zuge­wu­cher­ten Pfad, den Fabi­an und ich vor­her nicht gese­hen haben.

Nicht sehen soll­ten.

Nicht sehen woll­ten.

Ein Weg, der zu Erin­ne­run­gen an nächt­li­che Strei­te­rei­en führt, bei denen Wor­te flo­gen wie Pfei­le. Es ging um Geld, das Mama nicht ver­dien­te und das Papa ihr nicht zuge­ste­hen woll­te, um Urlau­be in Frank­reich, die dann doch in Tirol ende­ten. Es ging um Lie­be, die nicht benannt wur­de, weil sie sich bereits lang­sam ver­flüch­tig­te, und die ver­geb­li­che Sehn­sucht danach.

Woll­te sie uns das zei­gen?

(Mar­ti­na Ber­scheid: Zitat aus der Geschich­te „Kreuz­ver­hör”)


Interview der Autorin mit Peter Herzer


Du bist in Kai­sers­lau­tern gebo­ren und warst dort Mit­glied der ehe­ma­li­gen Mit­ter­nachts­schrei­ber. Wel­che Bedeu­tung hat­ten sie für dei­ne lite­ra­ri­sche Ent­wick­lung?


Ber­scheid: Eine gro­ße Bedeu­tung. Teil einer Schreib­grup­pe zu sein, war für mich eine Berei­che­rung, lite­ra­risch, aber auch mensch­lich. Über die eige­nen Tex­te zu dis­ku­tie­ren, ers­tes Feed­back zu bekom­men, bevor man sie in die Welt lässt, ist für Autor:innen mei­ner Mei­nung nach von gro­ßem Wert, vor allem zu Beginn des Schrei­bens, wenn noch eine gro­ße Unsi­cher­heit bezüg­lich des eige­nen Stils, der The­men, des Span­nungs­auf­baus etc. besteht. Ich war für die­se Unter­stüt­zung unheim­lich dank­bar. Mit man­chen ehe­ma­li­gen Mit­glie­dern die­ser Grup­pe besteht bis heu­te eine ganz enge Freund­schaft, und ich ver­traue nach wie vor auf deren kri­ti­sches Lese­au­ge und ihr ehr­li­ches Feed­back. Das hilft mir unge­mein.
Zudem hat­te ich mit den „Mit­ter­nachts­schrei­bern“ ers­te Lesun­gen, was für mei­ne spä­te­ren Ver­an­stal­tun­gen sehr hilf­reich war. Ich erlang­te eine gewis­se Rou­ti­ne und konn­te ler­nen, mit der Auf­re­gung, die ich nach wie vor habe, umzu­ge­hen.


Auf­fäl­lig in dei­nen Tex­ten, gleich Rosi­nen im Teig ver­streut, sind hoch krea­ti­ve Wort­schöp­fun­gen wie: „Eva wand­te sich ab und blick­te aus dem Fens­ter zum Him­mel, der dun­kel­vio­lett gefärbt war wie ein Kör­per vol­ler Häma­to­me.” Sind die­se ein bewusst ein­ge­setz­tes Stil­mit­tel oder kommt es dir spon­tan beim Schrei­ben?

Ber­scheid: Tat­säch­lich tau­chen vie­le Sprach­bil­der beim Schrei­ben selbst auf. Das ist auch etwas, das ich beson­ders lie­be: sich in den Wor­ten ver­lie­ren, schau­en, was da alles aufs Papier drängt, inhalt­lich, aber auch sprach­lich. Manch­mal habe ich das Gefühl, das Schrei­ben ver­selbst­stän­digt sich von selbst.
Hin und wie­der sind die­se Wort­schöp­fun­gen oder Sprach­bil­der auch bewusst gesetzt. Ich habe mitt­ler­wei­le ein Sam­mel­su­ri­um an Notiz­bü­chern, ohne etwas zu schrei­ben ver­las­se ich fast nie das Haus. Dar­in schrei­be ich auf, was mir unter­wegs so zufliegt. Manch­mal passt es dann zu einem Text, einer Figur, einer Hand­lung, die ich gera­de oder spä­ter ver­fas­se.
Schrei­ben ist ja nicht nur der Akt des Wör­ter Anein­an­der­rei­hens. Schrei­ben ist auch ganz viel Den­ken, Sam­meln, Auf­spü­ren, Aus­ein­an­der­set­zung.


Kri­ti­ker loben dei­ne hohe Empa­thie und tief­grün­di­ge Ein­blick­nah­me in sozia­le Ver­hält­nis­se. Prin­zi­pi­ell fokus­sierst Du den ganz nor­ma­len Mit­tel­schicht-Bür­ger im Hams­ter­rad der gro­ßen Strö­mun­gen, die er offen­bar nicht beein­flus­sen kann. Du ver­mit­telst den Men­schen aber regel­mä­ßig die Chan­ce zur Wei­ter­ent­wick­lung. War­um beschleicht einen beim Lesen das Gefühl der Gene­ra­ti­on X, an einem Hang zu ste­hen, ver­bun­den mit der unter­schwel­li­gen Angst, abzu­rut­schen?

Ber­scheid: Das Leben bie­tet kei­ne 100prozentige Sicher­heit. Nie. Egal, ob das Bezie­hun­gen sind, die Arbeit, sozia­le oder poli­ti­sche Ver­hält­nis­se (wie man der­zeit erschre­ckend an rech­ten, demo­kra­tie- und frau­en­feind­li­chen Strö­mun­gen sieht), Gesund­heit, der eige­ne Wohl­stand. Ich glau­be, momen­tan beschleicht vie­le die Angst, dem Leben nicht mehr gewach­sen zu sein, es wirt­schaft­lich nicht mehr zu schaf­fen. Oder psy­chisch. Die aktu­el­len Kri­sen, Krie­ge und der zuneh­mend raue­re gesell­schaft­li­che Ton ver­stär­ken das natür­lich. Aber Hoff­nung gibt es immer und ich möch­te auch in mei­nen Tex­ten auf­zei­gen, dass eine Ent­wick­lung mög­lich ist, so düs­ter sie zuwei­len sein mögen.


Vie­le dei­ner Geschich­ten besit­zen etwas Sze­ni­sches. Kannst Du dir vor­stel­len, dass dei­ne Prot­ago­nis­ten eines Tages leib­haf­tig auf der Büh­ne ste­hen?

Ber­scheid: Oh ja – das wäre wun­der­bar. Tat­säch­lich fühlt sich mein Schrei­ben auch oft so an, als beob­ach­te ich eine Sze­ne, einen Film, den ich nur nach­er­zäh­len muss. Beim Schrei­ben mei­nes Romans „Die Klas­sen­ka­me­ra­din“ hat­te ich bei der Figur „Eva“ sogar eine Schau­spie­le­rin vor Augen, die mei­ner Mei­nung nach opti­mal geeig­net wäre, sie zu spie­len.


Du trägst gern einen pas­sen­den Sei­den­schal zum Cover Dei­nes Erzähl­bands „Frem­der Cham­pa­gner“ – „The more you see“ von Flo­ri­an L. Arnold. Hat es damit eine beson­de­re Bewandt­nis?

Ber­scheid: Mei­ne lie­be Ver­le­ge­rin vom Mira­bi­lis Ver­lag hat­te die schö­ne (Mar­ke­ting-) Idee, das Cover auf Schals zu dru­cken – das Tuch zum Buch. Wenn ich ihn tra­ge, ist das aber nicht nur Wer­bung. Eher wie eine Art Talis­man und Aus­druck von Ver­bun­den­heit und auch Dank­bar­keit, dass mein Buch in die­sem tol­len Ver­lag erschie­nen ist.


Ein kla­res JA für eine star­ke Demo­kra­tie – einen sol­chen Auf­ruf wirst Du sicher unter­schrei­ben. Was bedrückt dich gegen­wär­tig am meis­ten?

Ber­scheid: Der Rechts­ruck und die miso­gy­nen Strö­mun­gen, die damit ver­bun­de­ne Gewalt, gegen Frau­en und Anders­den­ken­de, gegen que­e­re Men­schen und Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Von Gleich­be­rech­ti­gung waren wir ja sowie­so noch ein gutes Stück ent­fernt, aber es dro­hen Rück­schrit­te, die mich sehr beun­ru­hi­gen. Was bei­spiels­wei­se in Afgha­ni­stan pas­siert, ist so erschre­ckend. Aber nicht nur dort, über­all auf der Welt. Umso wich­ti­ger ist es, die Demo­kra­tie zu stär­ken, auf­zu­klä­ren, zusam­men­zu­hal­ten.
Ich glau­be, es ist wich­tig, für sich eine gewis­se Kon­stan­te zu schaf­fen, zumin­dest einen oder ein paar Men­schen zu haben, auf die man sich ver­las­sen kann. Sich mit Gleich­ge­sinn­ten zusam­men­tun, wie bei den Demos für Demo­kra­tie und Tole­ranz, habe ich selbst als sehr bestär­kend emp­fun­den. Soli­da­ri­tät, Freund­schaft und Zusam­men­halt sind von unschätz­ba­rem Wert, das erle­be ich selbst immer wie­der und bin sehr dank­bar dafür.


Vie­le klei­ne Ver­la­ge kreb­sen auf­grund der gestie­ge­nen Papier- und Ener­gie­prei­se am Limit. Ist das für dich spür­bar oder bist Du der­zeit ein­fach hap­py?

Ber­scheid: Für mich per­sön­lich ist es – der­zeit – nicht spür­bar, ich bin sehr froh über die Ver­öf­fent­li­chung mei­ner bei­den letz­ten Bücher, den Zuspruch und den vie­len posi­ti­ven Rück­mel­dun­gen. Aber ich bekom­me die Kri­se natür­lich mit. Mein ers­ter Roman „Das Echo unse­res Schwei­gens“ ist ja auch in einem klei­nen Ver­lag erschie­nen, der lei­der der Pan­de­mie qua­si zum Opfer gefal­len ist.
Es sind jedoch gera­de die klei­nen, unab­hän­gi­gen Ver­la­ge, die für lite­ra­ri­sche Viel­falt sor­gen, die abseits vom Main­stream publi­zie­ren, Talen­te und wich­ti­ge Stim­men för­dern, Expe­ri­men­tel­le­res zulas­sen. Das kommt ver­mut­lich auch durch die Auf­merk­sam­keit eini­ger Blog­ger, die über die­se Bücher und Ver­la­ge berich­ten. Auch der Ver­lags­preis 2024, den ja auch mei­ne Ver­le­ge­rin vom Mira­bi­lis Ver­lag erhal­ten hat, rich­tet den Fokus auf Ver­la­ge und Lite­ra­tur abseits des Main­streams. Mein Bewusst­sein hat sich dies­be­züg­lich voll­kom­men gewan­delt. Ich lese sehr viel aus unab­hän­gi­gen Ver­la­gen, bestel­le Bücher in Buch­hand­lun­gen, besu­che deren Stän­de auf Mes­sen. Was die För­de­rung die­ser Ver­la­ge angeht, da wür­de ich mir wün­schen, dass kul­tur­po­li­tisch und finan­zi­ell ger­ne noch mehr getan wird. Und dass sich Lese­rin­nen und Leser zuneh­mend dort umschau­en, denn: Es lohnt sich!


Biografische Notiz


1973 geb. in Kai­sers­lau­tern. Abitur und Stu­di­um Bio­lo­gie an der RPTU. 1999 jour­na­lis­ti­sche Aus­bil­dung in Frank­furt. Von 2000 bis 2004 PR-Refe­ren­tin in einem Soft­ware­un­ter­neh­men. Tätig­kei­ten als Volks­hoch­schul­do­zen­tin, All­tags­hel­fe­rin und im Ein­zel­han­del in der Gesund­heits­bran­che. Ber­scheid liebt Rock­mu­sik, kämpft gegen Miso­gy­nie (Frau­en­feind­lich­keit) und setzt sich für not­lei­den­de Hun­de ein.
Als Autorin ver­öf­fent­lich­te sie seit 2010 in Antho­lo­gien und Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten, schrieb Roma­ne und Erzähl­bän­de. 
2015 Hans-Bern­hard-Schiff-Lite­ra­tur­preis der Stadt Saar­brü­cken für die Kurz­er­zäh­lung „Seit”.
2020 stand ihr Manu­skript „Die Klas­sen­ka­me­ra­din” auf der Long­list des Blog­bus­ter Prei­ses.
Ber­scheid wohnt in Homburg/Saar.


Buch­tipp:
Mar­ti­na Ber­scheid: Die Klas­sen­ka­me­ra­din. Roman. Edi­ti­on Schaum­berg 2023, ISBN 978–3‑910306–06‑6.
Mar­ti­na Ber­scheid: Frem­der Cham­pa­gner. Erzäh­lun­gen. Mira­bi­lis, Klipphausen/Miltitz 2024, ISBN 978–3‑947857–25‑8


Quel­le: https://www.wochenblatt-reporter.de/kaiserslautern/c‑lokales/tiefgehende-blicke-in-die-risse-der-gesellschaft_a605907