Lothar Seidler, geboren 1957 in Nürnberg, promovierter Diplombiologe, übersetzt und lektoriert freiberuflich naturwissenschaftliche Fachtexte. Begründer und Inhaber des kleinsten Verlagshauses Heidelbergs (https://seidler-verlag.de/). Mitglied der Autorengruppe „Die Literatur-Offensive“ (https://litoff.de/) und im „Literaturnetz Heidelberg“ (www.literaturnetzheidelberg.de). Schreibt vor allem Prosa mit Hang zum Absurden.
Veröffentlichungen
- Der Zufallskurier, Erzählungen, Heidelberg 2005
- Der Zufallskurier in Fahrt, Hörbuch, Heidelberg 2005
- Nebelkopfhütte (mit Nils Ehlert, Anette Butzmann, Jancu Sinca, Olga Manj), Roman, Heidelberg 2009
Beiträge zu Zeitschriften und Anthologien, außerdem Übersetzungen verschiedener Fach- und Lehrbücher aus der Biologie und verwandten Wissenschaften.
Textbeispiel „Die Zitronenhändlerin”
Die Lieblingsfarbe von Sibylle war gelb. Es war nicht irgendein Gelb, sondern das kräftige Gelb reifer Zitronen. Dabei mochte sie eigentlich gar keine Zitronen, das Fruchtfleisch und der Saft waren ihr viel zu sauer. Doch mit ordentlich viel Zucker mochte sie es, aber nur von richtig reifen Zitronen. Die anderen nannte sie grün und beachtete sie nicht. Wenn sie eine reife Zitrone gefunden hatte, nahm sie diese zu sich, indem sie die Frucht mit der Zitronenpresse kräftig ausdrückte, bis außer der leeren Schale nichts mehr davon übrig war. Das ausgepresste Innere der Zitrone gab sie in ein Glas, in das sie danach solange Vollrohrzucker füllte, bis die Flüssigkeit ganz darin aufgegangen war. Dann aß sie das Glas mit einem kleinen Löffel langsam genüsslich leer. Da sie auf ihre schlanke Linie achten wollte, machte sie das nicht so oft. Aber immer wieder überkam es sie.
Einmal war Bernhard Sibylles Freund und sie war glücklich mit ihm. Das müsste es jetzt sein, dachte sie. Nach sechs Wochen und sechs Tagen sagte er zu ihr, dass sie doch auch ganz gut ohne ihn zurecht käme, und verließ sie. Sibylle war nun unglücklich und presste erst einmal eine große reife Zitrone aus, die richtig schön gelb war. „Da habe ich wieder mit grünen Zitronen gehandelt“, dachte sie bei sich, während sie ihr Glas besonders langsam leer aß. Danach nahm sie sich vor, in Urlaub zu fahren. Sie suchte ein Land aus, wo die Zitronen ganz prächtig wuchsen.
Eines Tages im Urlaub sah sie einen Zitronenbaum, der inmitten einer Baustelle stand. Die Bauarbeiter begannen gerade damit, ihn zu fällen. Die Früchte waren noch unreif und grün. Auf einem Schild vor der Baustelle stand in der Landessprache, dass an dieser Stelle ein Einkaufszentrum mit einem großen Parkplatz entstehen sollte. Einer der Arbeiter schaltete die Motorsäge an, dass hässliche Geräusch erfüllte die heiße Luft. Die Kette fuhr kreischend in den unschuldigen Stamm. Als der Baum fiel, machten die Blätter ein klatschendes Geräusch. Durch die Wucht des Aufpralls wurden einige der grünen Früchte abgerissen und flogen ein wenig herum. Am Ende lagen auch sie auf dem Boden und alles war still. Der aufgewirbelte Staub senkte sich langsam nieder.
Was soll nur aus den Zitronen werden, dachte Sibylle. Das war doch eine Verschwendung. Man müsste sie irgendwie verwenden, am besten mit extra viel Zucker. Zitronendrops fielen ihr ein, aber die erschienen ihr als ein zu sehr verarbeitetes Nahrungsmittel. Da kam ihr die Lösung: Man müsste die Zitronen in Scheiben schneiden und kandieren, dann wären sie immer noch Zitronen, aber schmackhafter und nicht so sehr verarbeitet. Sie wagte aber nicht, die Baustelle zu betreten und die Arbeiter zu bitten, eine Handvoll der Früchte pflücken zu dürfen. Sie schenkte dem liegenden Baum noch einen letzten Blick und ging ins Hotel. Dort aß sie ein Zitronensorbet, in das sie nachträglich noch viel Zucker schüttete, sodass es ihr sehr gut schmeckte.
Ein Vierteljahr, nachdem Sibylle aus dem Urlaub zurückgekehrt war, lernte sie Klaus kennen. Mit ihm war es dann wie mit Bernhard und eigentlich wie mit allen anderen Männern, die sie bis dahin geliebt hatte. Erst war sie glücklich und dann ging er von einem Tag auf den anderen. Nur dauerte es dieses Mal nur sechs Wochen und einen Tag, bis er zu ihr sagte, sie käme wohl besser ohne ihn zurecht. So kurz war es noch nie gewesen. Da beschloss Sibylle, ihr Leben zu ändern.
Sie lernte wieder einen Mann kennen, was ihr nicht so schwer fiel. Er hieß Roland. Als sie sich dann wieder so richtig glücklich fühlte, kaufte sie eine Tüte mit kandierten grünen Zitronenscheiben und schenkte sie ihm am sechsten Tag der sechsten Woche zum Abschied mit den Worten, er käme ja wohl besser ohne sie zurecht. So wollte sie ihm zuvorkommen, dass er nicht etwas Ähnliches zu ihr sagte, und das hatte sie nun auch geschafft. Roland konnte erst gar nicht verstehen, warum sie das tat und was sie da sagte, nahm aber schließlich die Tüte und kam nicht wieder.
So hält es Sibylle bis heute. Nicht jeder Mann nimmt die angebotene Tüte mit. Die hebt sie dann auf bis zum nächsten Mal, denn sie mag keine Nahrungsmittel verschwenden. Nur die Zeiten, die zwischen ihren Liebschaften vergehen, werden allmählich länger, sind aber immer noch um etwa sechs Wochen kürzer als das Mindesthaltbarkeitsdatum der kandierten Zitronenscheiben, die sie weiterhin regelmäßig kauft.